Der Grand Canyon von Herne
Herne. Die zweitkleinste Großstadt Deutschlands. Mitten im Ruhrgebiet in NRW. Und trotzdem sind auf einer Fläche von 51,41 km2 mehr als 10 Bäche vorzufinden. Darunter der Sodinger Bach, der Westbach und der Ostbach. Der zuletzt genannte hat in den letzten Jahren eine gewaltige Veränderung erfahren. Doch was genau wurde gemacht und was war der Grund?
von Joy Kristin Bayerwaltes
07. November 2024
Journalistische und auftragsorientierte Texte
Titelbild
Ökologisches Jahrzehnt
Während der Industrialisierung kamen viele Menschen aufgrund von Arbeit im Kohlebergbau nach Herne. Es entstanden insgesamt elf Zechen. Nach der Epoche des Kohlebergbaus hat gegen Anfang der 90er Jahre das Projekt „Ökologische Stadt der Zukunft“ begonnen. Viele Städte, unter anderem Herne, nahmen teil. In den Städten, in denen die Spuren des Bergbaus noch sehr präsent waren, wurde saniert. Denn das natürliche System der Wasserläufe wurde als Konsequenz der Industrialisierung zerstört. Aus diesem Grund wurde die Emscher und auch der Ostbach lange Zeit liebevoll als Köttelbecke bezeichnet. Dieser Begriff verweist auf deren Nutzen als Abwasserkanal. Resultat des Ganzen war die Errichtung von Natur- und Landschaftsschutzgebieten. Mehr grüne Flächen und „munter fließende Bäche“, wie es auf der Hauptseite der Stadt Herne heißt.
Denkmal Zeche Friedrich der Große in Herne.
Einer dieser Bäche: der Ostbach. Gemeinsam mit dem Westbach ist er der Vorfluter für das Herner Stadtgebiet. Er liegt im Bereich Ostbachtal, einem der Landschaftsschutzgebiete. 7,1 km lang ist das Nebengewässer der Emscher. Die Quelle liegt im Volkspark Bochum Hiltrop und fließt unterhalb des Gysenbergs in Richtung Norden weiter. Der historische Verlauf im 18. Jahrhundert fand seinen Ursprung im Gysenberg-Park, damals Gisenberger Holz, und floss durch Sodingen. Der Ostbach trug zu der Zeit noch den Namen Schmedebecke. Im Jahr 1842 verlief der Bach östlich des Schlosses Strünkede und trieb die ehemalige Strünkeder Getreidemühle an. Die Mündung befand sich am heutigen Rhein-Herne-Kanal, in der Kanalmitte am Stadthafen Recklinghausen.
Bis zur Renaturierung führte der Ostbach in den letzten Jahrzehnten vorbei am Forsthaus im Gysenberg und in Richtung Westen bis zur Schillerstraße. Von dort aus wurde er unterirdisch weitergeleitet und mündete in die Emscher.
Der neue Verlauf des Ostbaches
Die Quelle des Baches liegt stets im Hiltroper Volkspark. Der vorherige Verlauf ist bis zur Straße Hölkeskampring erhalten geblieben. Die unterirdische Etappe in Richtung Montag Schillerstraße wurde vor einigen Jahren renaturiert und wird jetzt als Biotop erhalten bleiben, da das Gewässer umgeleitet wurde. Der Ostbach kreuzt nun nicht mehr den Hölkeskampring, sondern knickt vor der Straßenunterführung ab in Richtung Norden und folgt oberirdisch parallel dem Verlauf der Straße. Eine offene Führung durch die Innenstadt wäre, zeitlich sowie finanziell, sehr aufwendig gewesen, weshalb der Ostbach zum Sodinger Bach geleitet wurde. Somit mündet dieser nicht mehr direkt in die Emscher.
Umleitung des Ostbaches. Zuvor war hier nur Wiese und der Ostbach verlief nach rechts.
Die Verantwortlichen für die Renaturierung
Für den Ostbach ist seit über 10 Jahren Ulrich Hermanns zuständig. Dieser arbeitet als Projektleiter bei der Emschergenossenschaft. Gegründet wurde diese 1899 mit der Intention, „für das Gemeinwohl mit modernen Managementmethoden nachhaltig“ für die Unterhaltung der Emscher, die Abwasserentsorgung und den Hochwasserschutz zu sorgen, wie es auf der Homepage formuliert wird.v
Projektleiter Ulrich Hermanns am Ostbach.
Eine ökologische Umgestaltung
Die Renaturierung des Ostbaches fand im Kontext des Emscher Umbaus – also der Befreiung der Emscher und ihrer Nebenläufe vom Abwasser – und der anschließenden ökologischen Verbesserung der Gewässer statt. Lange Zeit war in Herne die Befreiung des Baches vom Abwasser und seine Offenlegung nicht möglich. Auslöser für das Projekt war eine Vorgabe der EU, welche die Emschergenossenschaft dazu verpflichtete, Gewässer ökologisch durchgängig zu machen. Projektleiter Ulrich Hermanns erklärte dies wie folgt: „Das heißt, im Prinzip soll der Lachs von der Nordsee wieder bis nach Bochum Hiltrop schwimmen können.“ Aus diesem Grund wurde der Ostbach in den Sodinger Bach geleitet. Denn zuvor verlief dieser hauptsächlich durch unterirdische Rohre. Über Jahrzehnte hinweg wurden die verschiedensten Pläne erstellt und wieder verworfen.
Obwohl der Bach schon abwasserfrei war, konnte das Potenzial nie vollständig ausgeschöpft werden. Nach 120 Jahren fast verloren gegangener Natur wurde dies nun geändert. Durch die Schaffung einer neuen und offenen Gewässertrasse soll sich der Bach besser ökologisch entwickeln können, frei von Schmutzwasser. Abgewanderte Tiere sollen somit die Möglichkeit haben, sich wieder ansiedeln zu können und in einer gesunden Gewässerlandschaft zu leben. Dazu soll der Bach wie eine natürliche Klimaanlage wirken und die Luft kühlen. Dies trägt zur Verbesserung der Lebens- und Aufenthaltsqualität für alle Lebewesen bei.
Viele Jahre vergingen bis zur Genehmigung eines Planes
Der Ostbach wird verlegt und bekommt ein neues Flussbett: Eine 1,5 km lange, neue Gewässertrasse in vorhandenen Grünflächen, fünf Straßendurchlässe und drei Fuß- und Radbrücken. So der Plan. Der Aufwand für den Ostbach war groß. Dadurch sind mal mehr und mal weniger komplexe Baustellen entstanden. Doch was musste vorher überhaupt alles geklärt werden, damit das Projekt starten konnte, und wie lange war es in Planung?
Wenn von der Brücke auf der Mont-Cenis-Straße aus in Richtung Süden geschaut wird, ist der von den Bewohner*innen sogenannte „Canyon“ zu sehen, welcher für den Ostbach erbaut wurde. Die erste Idee war der aktuelle Verlauf jedoch nicht. Geplant war eine Führung durch die Herner Innenstadt. Doch dies stellte sich als zu zeitintensiv heraus. Die Durchführung dieses Plans hätte einen Aufwand von 50 bis 80 Jahren mit sich gebracht. Auch das Finanzielle hätte sich nicht in Grenzen gehalten.
Blick auf den Ostbach von Norden nach Süden in Richtung Mont-Cenis-Straße.
Seitdem Ulrich Hermanns das Projekt „Ostbach“ übernahm, vergingen viele Jahre, bis ein Plan genehmigt wurde. Vor Baubeginn müssen immer erste Konzepte erstellt und vorgestellt werden. Detaillierte Konzepte, Genehmigungsanträge und Bauverträge folgen. Es dauerte allein fünf Jahre bis zur Genehmigung. Dafür war eine neue Vorstellung eines Plans bei der Wasserbehörde erforderlich. „Alle sechs Monate haben wir neue Pläne vorgelegt“, berichtet Hermanns.
Der Bau begann 2019 kurz vor Corona. Den Startschuss für das Projekt gab Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda. Beendet werden sollte das Projekt Ende 2021. Dass es nun anderthalb Jahre länger gedauert hat, begründet der Projektleiter wie folgt: „Wenn es fertig ist, ist es fertig. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht fertig.“
Ein 1,5 km langer Bach für rund 11 Millionen Euro
Ebenfalls wurde für Herne ein neues Kanalsystem von 30 km angelegt, davon 1 km für den Ostbach, welches allein eine Investition von 385 Millionen Euro von der Emschergenossenschaft erforderte. Zusätzlich wurden Wasserläufe mit einer Gesamtlänge von 3 km für 40 Millionen Euro umgestaltet. Die Renaturierung des Ostbaches kostete bisher rund 11 Millionen Euro. Einige Stellen werden in Zukunft noch ökologisch umgestaltet. Die Planungskosten betrugen 2 Millionen, die Verlegung der Leitungen von Thyssengas 3 Millionen, der Bauauftrag 5 Millionen und hinzukamen circa eine halbe Millionen Euro an Bodenentsorgungskosten.
Nebenprojekte
Mit der ökologischen Verbesserung des Ostbaches gingen einige Nebenprojekte einher. Mehrere Baustellen und Rodungen. Besonders am Hölkeskampring war dies spürbar. Auch der Alltag der Bürger*innen wurde temporär eingeschränkt. An der Kreuzung Mont-Cenis-Straße und Hölkeskampring wurde ein Durchlass errichtet. Dafür musste die Straße gesperrt werden. Busse wurden umgeleitet und ein Halt entfiel. Eine Ersatzhaltestelle wurde vor dem Otto-Hahn-Gymnasium eingesetzt.
Heutiger Blick auf die Straße Mont-Cenis von Süden.
Am Verlauf des Hölkeskampringes, auf der Seite des Stadtgartens, mussten viele Bäume gefällt werden. Als die Rodungen begonnen haben, konnte auch Projektleiter Ulrich Hermanns nicht dabei zusehen: „In Herne gibt es ja nur 20 Bäume und davon habe ich ja schon in der Maßnahme 200 gefällt“, sagte er mit Ironie und fügte hinzu: „Das fiel mir auch nicht leicht.“ Jedoch war dies ein notwendiger Schritt für die ökologische Verbesserung des Baches. Hermanns erklärte, dass er aber schon rechtlich dazu verpflichtet gewesen sei, neue Bäume zu pflanzen. Es kann nicht alles ersetzt werden, jedoch soll es in schon wenigen Monaten wieder grün entlang des Ostbaches aussehen. Vor dem Otto-Hahn-Gymnasium und im Stadtgarten konnten sogar „wertvolle Altbäume“ erhalten bleiben, betonte er. Damit sich die Natur in Zukunft besser entwickeln kann, musste eben erst der Platz für Neues geschaffen werden.
Gerodeter Bereich im Stadtgarten am Hölkeskampring, wo nun der Ostbach fließt.
Reaktionen der Öffentlichkeit und Veranstaltungen
Die ersten Reaktionen der Bewohner*innen waren primär positiv und das Projekt wird als Gewinn für die Menschen angesehen. Es ist kein alltägliches Ereignis und es wurde Stadtgeschichte geschrieben. Jedoch gab es auch hier negative Kritik. Deswegen wurden Veranstaltungen für Interessierte angeboten.
Eines der Angebote war ein informativer Spaziergang. Berichtet wurde von der Planung und den Vorgehensweisen. Dies ermöglichte den Bürger*innen, sich ein besseres Bild vom Ganzen zu machen.
2020 fand eine Infoveranstaltung am Otto-Hahn-Gymnasium statt. Bei dieser wurde auch über die Rodungen gesprochen. Ulrich Hermanns informierte über rund 200 gefällte Bäume, was einen Presseaufschrei auslöste. Planmäßig sollten es 130 werden. Er entschied sich jedoch dazu, die höhere Anzahl zu nennen, da es besser sei, wenn hinterher weniger Bäume gefällt werden als angekündigt, anstatt andersherum. Die Beschwerden wären deutlich größer ausgefallen, wenn plötzlich 50 Bäume mehr gerodet worden wären. Auf die Rodung reagierte die Bevölkerung selbst sehr divers. Einerseits freuten sich einige darüber, endlich Sonne auf dem Balkon zu haben. Andere Anwohner*innen hingegen waren traurig darüber, dass all die Bäume wegkommen. Eine Anwohnerin von über 70 Jahren war verärgert und fragte, was als nächstes beseitigt werde.
Negative Stimmung verursachte auch die Angst vor Hochwasser. „Starkregenereignisse, die alle 100 Jahre auftraten, haben wir heutzutage alle 3 Jahre“, so Ulrich Hermanns. Die Angst ist seiner Meinung nach somit grundsätzlich berechtigt. Allein die Ereignisse im Ahrtal beunruhigten viele. Doch genau für solche Fälle wurde für den Ostbach der „Canyon“ errichtet – zur Stärkung des Hochwasserschutzes. Bei den Straßendurchlässen liegt der Bach tief genug, um Hochwasser zu sammeln. Trotzdem bleibt die Angst vor abbrechenden und festhängenden Bäumen im Durchlassbereich.
Der „Canyon“/Durchlass zwischen dem Hölkeskampring und dem Parkplatz des Gymnasiums.
Beschwerden im eigentlichen Sinne traten kaum auf. Es gab Einzelfälle, in denen die Emschergenossenschaft Entschädigungen auszahlen musste. Dazu gehörten klassische Fälle wie zum Beispiel, dass durch die Erschütterungen Tassen kaputt gingen. Aber auch Risse in Hauswänden, wenn auch nur in geringen Maßen, mussten entschädigt werden. Ansonsten beschränkten sich die Beschwerden auf Staub und Lärm.
Blaues Klassenzimmer
Ein Nebenprojekt, das viel Zustimmung erfuhr, war „Gemeinsam für das Neue Emschertal“. Da das Otto-Hahn-Gymnasium eine Patenschaft für den Ostbach hat, kam die Idee auf, Unterricht auch draußen am Bach zu machen. Dieses Projekt fand in Kooperation mit dem NRW-Städteministerium statt. Schüler*innen des Gymnasiums und der Schillerschule hatten die Möglichkeit, das blaue Klassenzimmer mitzugestalten. Aufgrund der terrassenförmig angeordneten Natursteinblöcke wird das Klassenzimmer heute auch als Amphitheater bezeichnet. Schüler*innen und Lehrkräfte sollen so nach den Sommerferien sich zum Unterricht bei den Steinen versammeln können, direkt am Ostbach. Es bietet sich besonders für den Biologieunterricht an. Aber auch alle anderen Fächer lassen sich dort in einer angenehmen Atmosphäre unterrichten. Denn das Lernen an der frischen Luft ist sehr effizient. Ebenfalls soll zum Erwerb von Wissen über die Natur und Infrastruktur beigetragen werden.
Das Blaue Klassenzimmer am Otto-Hahn-Gymnasium.
Der Oberbürgermeister der Stadt Herne kommentierte dies wie folgt: „Ich war selber Schüler am Otto-Hahn-Gymnasium. An eine Renaturierung der Emscher-Gewässer war damals aber aufgrund des aktiven Bergbaus nicht zu denken. Jetzt als Oberbürgermeister von Herne und als Vorsitzender des Genossenschaftsrates der Emschergenossenschaft dieses Zukunftsprojekt mitgestalten zu können, ist einfach klasse.“
Genutzt wird das blaue Klassenzimmer auch außerhalb der Schulzeiten. Da es frei zugänglich ist, sieht Hermanns hier einige Probleme. Er befürchtet, dass der Ort zweckentfremdet wird. „Ich habe bereits schon Bierflaschen aufgesammelt“, berichtete er im Interview. Insgesamt lässt sich das blaue Klassenzimmer jedoch als gute Investition ansehen.
Ulrich Hermanns am blauen Klassenzimmer.
Fazit: „Eine ökologische Aufwertung unserer Heimat direkt vor der Haustür“
Das ökologische Jahrzehnt nach der Industrialisierung war der erste Schritt zur Wiederherstellung der Natur in vielen Städten. Viele Projekte wie die Renaturalisierung der Emscher sollten dazu beitragen. Die ökologische Umgestaltung des Ostbaches ist nur ein kleiner Teil des Gesamten und doch ein großes Ereignis für die Stadt Herne. Viel Aufwand wurde betrieben und hohe Summen ausgegeben. Doch über ein Jahrzehnt an Planung lohnte sich. Projektleiter Ulrich Hermanns ist stolz auf das Endergebnis und zufrieden mit den durchaus positiven Reaktionen der Herner*innen. Jahrelange Bauarbeiten und trotzdem zufriedene Gesichter. Besonders die Schüler*innen des Gymnasiums und der Schillerschule freuen sich über ihre umgesetzten Ideen. Auch wenn vorherige Bereiche schöner Natur zerstört wurden, war dies die Voraussetzung für eine noch bessere Zukunft.
Um mit den Worten des Oberbürgermeisters abzuschließen: „Mich fasziniert der Emscher Umbau, da dadurch eine ökologische Aufwertung unserer Heimat direkt vor der Haustür der Menschen geschieht. Diese Investitionen in Klima- und Umweltschutz sind ein Gewinn für alle Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.“