„Was darf’s denn sein, mein Schatz?“
Eine Mini-Ethnografie über die Kommunikation von Vertrautheit in einer Bäckerei[i]
von Laura Schniesko
13. November 2024
Kommunikation in Institutionen und Organisationen
1. Einleitung
Folgt man der allgemeinen Definition dessen, was eine Bäckerei ist, dann stößt man im Duden auf Folgendes: „Betrieb, in dem Backwaren aller Art [hergestellt und] verkauft werden“ (Duden o.J.; Zusatz im Original). Mit Goffman gesprochen handelt es sich bei einer Bäckerei also um eine gesellschaftliche Einrichtung, die ein „Ort“ ist, „der durch feste Wahrnehmungsschranken abgegrenzt ist und an dem eine bestimme Art von Tätigkeit regelmäßig ausgeübt wird“ (Goffman 2019: 217); in diesem Fall das Herstellen und Verkaufen von Backwaren in einem Betrieb. Was diese Definition nicht enthält, ist die Beantwortung der Frage, wer welche Funktion in dieser gesellschaftlichen Einrichtung übernimmt und aus welchen Dynamiken und Beziehungsgefügen diese Funktionen emergieren. Diese Aspekte sind aber insofern zu berücksichtigen, als eine gesellschaftliche Einrichtung als ihre Existenzbedingung immer ein Ensemble enthält, das Goffman wie folgt definiert:
„Innerhalb der Grenzen einer gesellschaftlichen Einrichtung finden wir ein Ensemble von Darstellern, die zusammenarbeiten, um vor einem Publikum eine gegeben Situation darzustellen“ (ebd.).
Übersetzt in das Vokabular des Settings Bäckerei bedeutet das Folgendes: Das Ensemble setzt sich, abstrakt gesprochen, aus Kunden und Verkäufern zusammen, die gleichermaßen Darsteller und Publikum sind.[1] Innerhalb dieses Ensembles „herrscht Vertraulichkeit“ (ebd.), die nicht weniger auf einem stillschweigenden Einverständnis über „ein bestimmtes Ausmaß an Übereinstimmung und Gegensatz zwischen ihnen“ (ebd.) beruht.
Aber generiert die Rollenfassade, die primär, weil sichtbar über die eher langweilig anmutenden formalistischen Aspekte reproduziert wird, allein Vertrautheit oder bedarf es dazu anderer Arrangements und Elemente? Die These, die dieser Mini-Ethnografie zugrunde liegt, ist, dass eben jene Vertraulichkeit, die innerhalb des Ensembles herrscht, über das stillschweigende Einverständnis hinaus generiert, also kommunikativ fabriziert wird. Die Frage, die dem zugrunde liegt, ist die Frage nach den Mechanismen, die ich Arrangements nennen werde, über die die eben konstatierten Rollen[2] in Beziehung gesetzt werden: Neben dem Geschlechterarrangement, soll auch das generationale Arrangement Betrachtung erfahren, allerdings nur dann, wenn diese Aspekte kommunikativ relevant gesetzt werden.[3] Zugrunde liegt also die ethnomethodologische Idee des „doing gender“ und des „doing generation“ (siehe hierzu auch Garfinkel/Sacks 1976). Somit stehen spezifische Interaktionsformen im Vordergrund, die spezifische Inhalte und Beziehungsgeflechte generieren und umgekehrt über diese Inhalte und Beziehungsgeflechte (re-)produziert werden. Dass diese beiden Formen des Arrangements eng miteinander zusammenhängen, leuchtet, wie zu zeigen sein wird, nicht nur intuitiv ein.
2. Die Bäckerei als Ort der Unterschiede
Die Bäckerei ist ein Ort, an dem unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Aussehens, unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Berufe, unterschiedlicher sozialer Schichten und unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen, um doch das Gleiche zu tun: zu kaufen und zu konsumieren. Die Arten und Weisen aber, auf denen diese Praktiken ausgeführt werden, sind höchst unterschiedlich, was nicht wenig mit den oben genannten, wenn auch nur bedingt sichtbaren Unterschieden der Menschen zu tun hat. Nun ist es aber so, dass Unterschiede nicht gleich Unterschiede sind; daher sei eine qualitative Differenzierung dieses Begriffes eingeführt: Zum einen gibt es Unterschiede, die keinen Unterschied machen. In diesem Fall etwa spielen das Alter oder das Geschlecht keine Rolle, insofern sie keiner kommunikativen Relevantsetzung unterliegen; sie sind irrelevant oder nicht informativ. Zum anderen gibt es – und auf diesem Aspekt liegt der Fokus der vorliegenden Betrachtung – Unterschiede, die einen Unterschied machen. Dies ist dann der Fall, wenn sie von mindestens einem Interaktionsteilnehmer kommunikativ relevant gesetzt, das heißt expressis verbis genannt werden und darauf eine sichtbare Reaktion folgt. Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich also bei dem Ensemble – Kunde und Verkäufer – um das System, für dass ein externer Einfluss – etwa ein sichtbarer Unterschied wie das biologische Geschlecht – informativ ist und somit für jenes einen wie auch immer zu bearbeitenden Unterschied macht.
Hierbei ist es wichtig, in Rechnung zu stellen, dass das Relevantsetzen von Unterschieden zwar von der äußeren Erscheinung eines Menschen getriggert wird, dass aber das, was währenddessen geschieht, keine schematische Kategorisierung, sondern eine – im Sinne Hartmut Rosas – horizontale Resonanzbeziehung ist; eine Beziehung, die sich punktuell einstellt, und in der die Beteiligten aufeinander eingehen (siehe hierzu auch Rosa 2016). Über diesen Mechanismus der sichtbaren Thematisierung, der – so die These – über die Unterschiede zustande kommt, entsteht Vertrautheit in der Interaktion. Diese Relevantsetzung wird im Folgenden unter dem allgemeinen Begriff des Arrangements diskutiert werden und empirische Sättigung erfahren. Es wird auch zu zeigen sein, dass es sich bei der Trennung der aus dem Material extrahierten Arrangements – dem Geschlechterarrangement und dem generationalen Arrangement – nur um eine analytische handelt. Nicht selten greifen sie ineinander und entfalten erst so ihre Wirkung sowohl in der Interaktion als auch in dem Verständnis bestimmter sozialer Praktiken und wodurch sie sich auszeichnen. Darüber hinaus sollen erste gesellschaftstheoretische Implikationen dieser Praktiken zumindest angedeutet werden. Schlussendlich werden die einzelnen Analysen an das analytische Thema Vertrautheit in Interaktion im Allgemeinen und an das Schlüsselthema kommunikative Fabrikation von Vertrautheit im Hinblick auf die Frage, was daraus über soziale Praktiken in der gesellschaftlichen Einrichtung Bäckerei deduziert werden kann, rückgebunden und verdichtet.
2.1 Das Geschlechterarrangement
Lassen wir die Praxis des Kaufens im Rahmen einer vertrauten Interaktion mit einer geschlechterstereotypen Allianz beginnen:
Ein älterer Mann und eine ältere Frau, augenscheinlich 60+, betreten die Bäckerei (Ich nehme an, dass es sich um Ehepartner handelt, weil sie vermutlich ob epigenetischer Prozesse verdächtig gleich aussehen). Als die Frau, die im Gegensatz zu ihrem Mann, der ihr nur wie ein kleines Hündchen hinterherdackelt, zielstrebig die Bäckerei betritt, „Morjen“ sagt, entgegnet die jüngere der beiden Verkäuferinnen das gleiche „Morjen“ (wirkt sympathisch, zumindest lachen beide); der Mann und die Frau diskutieren darüber, ob sie ein ganzes oder ein halbes Brot brauchen, bis die Frau sagt: „Ne, wir brauchen doch kein ganzes Brot, ham wa doch nie“. Nun beteiligt sich die ältere Verkäuferin, vermutlich in ihren Fünfzigern, mit einem „Oh, die Frau hat gesprochen“ an diesem Gespräch.
Das ziemlich selbstbewusste Auftreten der Frau, das zielstrebige Hereinstürmen in die Bäckerei und der kleinlaute Appendix in Form ihres Ehemannes an ihr klebend scheinen die Inkarnation der Äußerung „Oh, die Frau hat gesprochen“ zu sein. Dieser schon fast unzweideutige Eindruck scheint mir aus dem Wechselspiel geschlechterstereotyper Annahmen zu prosperieren: Zwar besteht die Möglichkeit, dass die Verkäuferin Partei mit der Frau ergriffen hat, weil sie dem inhaltlichen Aspekt ihrer Aussage zustimmt (wenn die beiden nie ein ganzes Brot kaufen, warum sollten sie es heute tun?). Auffällig aber erscheint der ostentative Rekurs auf das Geschlecht, um dessen Willen diese Aussage getätigt wurde; inhaltlich knüpft sie nämlich in keiner Weise an das an, was die ältere Kundin gesagt hat. Damit einher geht ein weiterer Aspekt, den ich mit einer Frage einleiten möchte: Steht es der Verkäuferin, die ohnehin nicht an dem aus ihrer Sicht Verkaufsprozess beteiligt war, zu, sich in einer Weise zu beteiligen, die als Unterminierung des privaten Raumes verstanden werden kann? Die ältere Frau rekurriert nämlich auf eine gemeinsame Routine, die sie als Ehepartner haben (ham wa doch nie), um ihre Kaufentscheidung zu legitimieren, und nicht auf ihr Geschlecht. Allerdings muss konzediert werden, dass sie diese Äußerung in einem öffentlich Raum und dazu noch hörbar vor anderen tätigt, sodass aus dem privaten Raum legitimierweise mindestens ein halböffentlicher Raum wird. Unter diesem Aspekt kann die Frage mit einem Jein beantwortet werden. Eine Beteiligung mag der Verkäuferin daher zustehen, aber keine Beteiligung dieser Art. Was zur zweiten Deutung dieser Beobachtung führt:
Die Verkäuferin hat Partei mit der Frau ergriffen, weil sie ähnlich wie diese eine Frau besten Alters ist: „Oh, die Frau hat gesprochen“; das Geschlecht wird also – wie bereits festgestellt – explizit relevant gesetzt („doing gender“). Hiervon ausgehend lassen sich viele Fragen generieren, die nicht weniger interessant für eine gesellschaftstheoretische und genderhistorische Perspektive sind. Der Affirmation „Oh, die Frau hat gesprochen“ können unterschiedliche Lesarten zugrunde liegen: Eine Betonung des Wortes Frau legt nahe, dass die Verkäuferin diese Äußerung vor dem Hintergrund ihrer Überzeugung geäußert hat, Frauen seien das starke Geschlecht, das dem Narrativ von toxischer Männlichkeit und der Beherrschbarkeit der Frau diametral entgegensteht. Eine Betonung des Wortes Oh hingegen legt nahe, dass die Verkäuferin überrascht ist, dass sie trotz ihres Frauseins in dieser Situation nicht nur kommunikativ über ihren Mann dominiert. Beiden Interpretationen liegen Stereotype zugrunde, die sich allerdings aus unterschiedlichen Richtungen speisen: Das erste Stereotyp ist als Reaktion auf Unrecht zu verstehen, das zweite als Ergebnis gesellschaftlicher Tradition. Erstere Deutung ist insofern naheliegender, als die Verkäuferin sich bewusst entscheidet, in sekundenschnelle eine Allianz mit der Frau einzugehen; der Mann jedenfalls verhält sich reserviert und ergibt sich seinem Schicksal. Diese Kapitulation des Mannes und die Sympathie seiner Ehefrau mit der Verkäuferin signalisieren deutlich, dass alle Beteiligten ähnliche geschlechterhierarchische Überzeugungen haben.[4]
Was ist es nun, wofür diese soziale Praxis steht? Primär scheint sie ein Ausdruck von Geschlechterhierarchie zu sein, die in jedem Fall tradiert ist, der aber auch das Attribut überzeugt beistehen kann. So tätigt die Verkäuferin diese Aussage vermutlich vor dem Hintergrund eigener geschlechterhierarchischer Überzeugungen, die in jedem Fall in den Alterskontext gestellt werden müssen: augenscheinlich ist die Verkäuferin über 50 Jahre alt, die Kundin sogar über 60. So hat dieses vermeintlich sichtbare Alter der Kunden in diesem Zusammenhang offenkundig für die Entstehung eines resonanzfähigen Raumes gesorgt.
2.2 Das generationale Arrangement
Das Alter scheint nicht nur eine relevante Erklärungsgröße im Rahmen stereotyper Geschlechterallianzen zu sein, sondern wird auch für sich genommen aufgegriffen, um selbst denjenigen ein Lächeln abzugewinnen, bei denen man es am wenigsten erwartet:
Nachdem die Mutter mit ihren drei Kindern kurze Zeit später die Bäckerei verlassen hatte, sprach die Verkäuferin, ich schätze sie auf Mitte 40, mich mit einem „Bitteschön“ an. Ich war etwas irritiert und schaute zu dem alten, langbärtigen und etwas grantig anmutenden Mann, der neben mir stand. Ich zeigte mit dem Finger auf ihn, um der Verkäuferin zu signalisieren, dass er vor mir da gewesen sei; sie winkte die Geste ab und erwiderte schmunzelnd: „Der junge Mann wartet nur“ (aus dem Augenwinkel vernahm ich, dass die Verkäuferin ihm mit dieser leicht ironischen Äußerung ein leichtes schmunzeln entlocken konnte).
Die Bezeichnung eines augenscheinlich alten Mannes als junger Mann ist Ausdruck latenter negativer Altersstereotype, von denen die Verkäuferin nicht einmal selbst überzeugt sein muss; es reicht das Wissen um deren gesellschaftliche und kulturelle Tradiertheit. Dass die Beteiligten allerdings daran glauben, zeigt deren Reaktion: Sie schmunzeln, die Ironie und die Tatsache, dass niemand wirklich daran glaubt, dieser Mann sei jung, scheinen verstanden. Die Annahme, dass Alterskomplimente nur vor dem Hintergrund eines negativen Altersbildes eine eindrückliche Notwendigkeit ausmachen, scheint logisch und paradox zugleich, findet aber in der Untersuchung Thimms über das Alter als Kommunikationsproblem ihre Bestätigung. Demnach werden die Interaktanten nicht nur als Individuen, sondern darüber hinaus auch als einer Generation zugehörig wahrgenommen (vgl. Thimm 2002).
Wenn von generationalem Arrangement die Rede ist, stellt sich natürlich die Frage, ob das Alter von verschiedenen Generationen und von unterschiedlichen Personen[5] auf unterschiedliche Weise kommunikativ relevant gesetzt wird. Man kann nach situationistischen Aspekten fragen oder ein Augenmerk auf die konkreten Bezeichnungen legen, was hier der Fall ist. Um meine These, bestimmte sprachliche Ausdrücke sind bestimmten generationalen Arrangements vorbehalten, zu stützen, sei ein weiteres Beispiel angeführt:
Dann kam auch schon die Verkäuferin aus der Backstube, schaute das Kind mit großen Augen an und sagte, so als wäre sie die Mutter oder eine enge Verwandte: „Was darf’s denn sein, mein Schatz?“
Ein Gedankenexperiment soll Aufschluss über die Legitimität der These geben: Man stelle sich nur vor, die Verkäuferin hätte zu dem alten Mann „Schatz“ gesagt. Umgekehrt wäre die Bezeichnung des Kleinkindes als junge Frau ebenfalls ungewöhnlich, aber, so scheint mir, irgendwie doch taktvoller gewesen. Diese Form der Kommunikationsstrategie kann mithilfe der Sprachakkommodationstheorie (vgl. Giles/Coupland/Coupland 1991; vgl. Giles/Gasiorek 2011; vgl. Thimm 2002) erklärt werden: Zwar ist die Verkäuferin im ersten Fall jünger und im zweiten Falle deutlich älter als der Kunde, reagiert aber auf beide überakkommodativ, das heißt in mangelnder Anpassung an die kommunikativen Bedürfnisse der anderen Person (erst sehr ironisch, dann ziemlich verniedlichend). Gemäß Giles und Williams fühlen sich nämlich auch jüngere Menschen durch inadäquate Kommunikation patronisiert und in ihrer Entwicklung beeinträchtigt (vgl. Giles/Williams 1994). Spannend allerdings ist – und das ist der zentrale Punkt dieser Theorie –, dass diese Form der miscommunication nicht als solche interpretiert wird, was dem Kontext eine zentrale Bedeutung einräumt und nicht weniger bedeutend für Vertrautheit in Interaktion ist. Daran schließt die Frage an, wann es legitim ist, jemandem sprachlich derart (inadäquat) zu begegnen und wann nicht. In diesem Fall aber scheint ein Gespräch besonders vertraut, wenn generationale Unterschiede nicht nur bestehen, sondern sprachlich fast schon unangemessen zur Geltung kommen. Das setzt nicht weniger ein spezifisches Wissen um das gesellschaftliche Ansehen von Generationen voraus.
Dass dieses Arrangement im Kern nicht nur auf einseitig defizitären Annahmen beruhen muss – wenngleich dies nicht, wie gezeigt wurde, mit Vertrautheit im Widerspruch steht –, zeigt folgendes Beispiel, das v.a. hinsichtlich der eingangs erläuterten Resonanztheorie einschlägig ist; es zeigt nämlich, wie dieses Arrangement dazu führt, sich punktuell und adäquat auf den jeweils anderen einzustellen und so Gefühle und Gedanken zuungunsten eines durch Affirmationen zum Ausdruck kommenden hierarchischen Verhältnisses resonieren:
Kurz darauf betrat eine Frau mit einem Motorradhelm in der Hand die Bäckerei, von der ich weiß, dass sie dort arbeitet. Sie blieb vor dem kleinen Kind, das auf dem Schoß seiner Mutter saß, stehen und zog Grimassen; alle Beteiligten an diesem Tisch lachten. Die Frau in der schwarzen Motorradkleidung verschwand für einige Minuten in der Backstube, obwohl sie, wie ich später herausfand, nicht zum Arbeiten da war.
Die Frau mit dem Motorradhelm zeigte eine für mich irgendwie ungewöhnliche, weil neue Seite von sich. Wenn sie in der Bäckerei arbeitet, macht sie in ihrer Arbeitskleidung, ihren zusammengebundenen Haaren und mit der Verwendung typischer Bäckerfloskeln: „Bitteschön“ und „Kommt noch was dazu?“ einen eher lieben und unschuldigen Eindruck, eben den Eindruck einer Frau, die ihre Arbeit gewissenhaft zu erledigen sucht, dabei aber trotzdem häufig unkonventionell freundlicher ist als ihre Kolleginnen. Mit dem Motorradhelm in der Hand, den schwarzen Bikerklamotten am Körper und den schulterblattlangen rot-lila Haaren strahlte sie an diesem Tag aber eher etwas Draufgängerisches aus.
Das kleine Kind, das fast noch ein Baby ist, macht hier einen Gegensatz auf, der nicht nur aufgrund seines generationalen Aspektes auffällig scheint: das kleine unschuldige Wesen und die große, draufgängerisch anmutende, schwarz gekleidete Frau. Dieses Kind scheint aber einen gewissen Einfluss auf die Frau zu haben, insofern es ihr ein Verhalten abzuringen vermag, das so gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild passt: „Sie blieb vor dem kleinen Kind, das auf dem Schoß seiner Mutter saß, stehen und zog Grimassen“; ich hatte zunächst den Eindruck, als mache das Kind diese stahlharte Frau weich. Andersherum kann man auch die besondere Fähigkeit der Frau hervorheben, auf eben dieses unschuldige Wesen wie eine fürsorgliche Mutter eingehen zu können, was ihrer draufgängerischen Erscheinung eine gewisse Sympathie zur Seite stellt. Sehr schnell wird klar: die beiden sind die Protagonisten in dieser Situation.
Spannend ist dabei die räumliche Positionierung der Beteiligten. Die Bikerin ist diejenige, die über das Nähe-Distanz-Verhältnis entscheidet, was sie wiederum ihrer sonstigen Erscheinung entsprechend sehr selbstbewusst wirken lässt. Sie ist in der Lage, in der Art mit diesem nicht nur räumlichen Verhältnis zu spielen, dass dieses die Interaktion mit dem Baby positiv verstärken, das heißt unterstützen und zur Heiterkeit beitragen kann. Sie sitzt quasi am Steuer dieser Interaktion, wirkt dabei aber nicht unangenehm dominant, weil sie diese mit dem Kind, nicht über das Kind gestaltet und mit ihm in Resonanz geht, indem sie den starken Kontrast, also den sichtbaren Unterschied, auf interaktionaler Ebene einebnet. Auch als die Bikerin das Distanzverhältnis enorm vergrößerte, indem sie hinter die Theke trat, um sich ein Brötchen zu holen, resonierte weiterhin etwas, das man Vertraulichkeit nennen könnte:
Danach ging sie hinter die Theke zu den anderen Verkäuferinnen, um sich ein Brötchen zu nehmen, das sie später natürlich auch bezahlte. Während sie ein Brötchen in eine Tüte packte, schauten die große, starke Frau und das kleine, niedliche Kind einander an, als jene mit einer sehr verstellten, infantilen Stimme sagte: „Bei mir würdest du den ganzen Tag weinen“; dabei rümpfte sie die Nase und kniff die Augen zusammen, was m.E. sehr gut zu ihrer verstellten Stimme passte (warum sie das sagte, war mir völlig schleierhaft, die anderen Kunden schienen dies aber witzig zu finden, sie lachten). Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Wo ich klein war, fand meine Oma mich süß“, alle Beteiligten schmunzelten, wobei die Mutter ihre Tochter, die auf ihrem Schoß saß, liebkoste. Noch einmal äußerte die Frau etwas mit einem Dialekt, von dem ich nicht sagen könnte, dass er spezifisch rheinländisch oder rheinisch wäre (ist es überhaupt ein Dialekt/Regiolekt oder ein ‚lockerer‘ Umgang mit Sprache?): „Dich können wa eigentlich inne Theke setzen“ – „Nein, die geben wir nicht ab“ entgegnete die Oma des Kindes schmunzelnd. Das Kind, das im Mittelpunkt dieser Unterhaltung stand, schien das nicht zu interessieren (was kaum verwunderlich ist) und schaute die Frau hinter der Theke nur mit großen Augen an: „So ein liebes Kind“ schwärmte sie…[6]
Dieser Fall bewegt sich deshalb im Spektrum absoluter Vertrautheit, weil deutlich wird, dass selbst die Thekenformation nichts an der Interaktionsform oder überhaupt an dem Fortbestehen der Interaktion und der Resonanzbeziehung etwas zu ändern vermag, im Gegenteil: die Interaktion beginnt Fahrt aufzunehmen. Die Mutter ist währenddessen nur das Sprachrohr des Kleinkindes, wird deshalb auch in dem weiteren Ablauf als abwesend behandelt; es scheint, als glaubte die Frau wirklich, das Baby spreche mit ihr. Das erinnert wiederum an ein Kind, das sich in seiner Phantasie in einer Situation befindet, die es für real hält und dementsprechend darauf reagiert: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas/Thomas 1928: 571). So lerne ich eine ganz andere Frau kennen als die, die einige Minuten zuvor die Bäckerei betreten hat.
Das Arrangement der Generationen scheint grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Interaktionsdynamik zu haben, wenngleich dies auf zwei unterschiedliche Weisen geschieht: Erstens durch eine defizitäre Sicht auf Alter und zweitens durch Einebnung jeglicher Defizite durch geschicktes kommunikatives Handeln. Dass die erste Strategie nicht in einem Widerspruch zu einer vertrauten Interaktion steht, ist unter dem zentralen Aspekt der positiven Reaktion auf dieses defizitäre Bild deutlich geworden.
3 Die soziale Praxis des Kaufens und des Verkaufens in einer Bäckerei – ein Fazit
Vertraute Interaktion in Institutionen ist keine Notwendigkeit und doch kommt sie allenthalben vor. „Wir bieten unseren Kunden täglich frischen Genuss und gleichbleibende Qualität“ (Bäckerei Evertzberg o.J.), heißt es ziemlich nüchtern auf der Internetseite des Familienunternehmens, auf der Kunde und Verkäufer gegenübergestellt und einander entfremdet werden. Dass aber über die rein geschäftliche Beziehung hinaus etwas emergieren kann, was man Resonanz oder Anerkennung nennen würde, ist in der Theorie und offensichtlich in dem Selbstverständnis des Unternehmens nicht impliziert. In der konkreten sozialen Praxis aber sieht es anders aus: Hier findet die maximale Distanzierung ihre Auflösung in einer kurzweiligen Resonanzbeziehung, die über das Arrangement der Geschlechter und das der Generationen hergestellt und aufrechterhalten wird. Dass diese Arrangements primär über Stereotype und defizitäre Annahmen hergestellt werden, steht, wie wir gesehen haben, nicht im Widerspruch zum Phänomen der Vertrautheit in Interaktion. Warum? Weil die Reaktion der Kunden stets zugunsten einer aufeinander abgestimmten Beziehung ausfällt.[7]
Die Gründe für die Übereinstimmung können mannigfaltig sein. Einige gesellschaftstheoretische Implikationen seien an dieser Stelle dennoch kurz angedacht: In jedem Fall werden ähnliche Überzeugungen oder Sozialisierungen etwa im Hinblick auf Geschlechterhierarchien oder Altersstereotype deutlich. Dass diese Überzeugungen für eine Generation spezifisch sind, ist unwahrscheinlich, weil die an den Gesprächen Beteiligten drei unterschiedlichen Generationen angehören; Wahrscheinlicher ist daher ein allen gemeinsamer Faktor: die kulturelle und gesellschaftsspezifische Tradition.[8]
Für eine allgemeine soziale Praxis des Kaufens und des Verkaufens lässt sich demnach eine Kultur- wie Gesellschaftsspezifität bestimmen, die in diesem Falle über das Geschlechter- und intergenerationale Arrangement ihren Ausdruck findet bzw. untersucht wurde. In den Fällen, in deinen keines dieser Merkmale kommunikativen Ausdruck fand, folgte diese Praxis institutionellen Standards nach Maßgabe und Erwartungen an die jeweils eingenommenen Rollen, von denen am Anfang gesagt wurde, diese könnten qua Setting stillschweigend vorausgesetzt werden. Also: Je vertrauter die Interaktion, desto höher die Rollenflexibilität vice versa.
[i] Genderhinweis: In der vorliegenden Arbeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
[1] Eine nähere und anschaulichere Charakterisierung dieser Rollen erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt.
[2] Dass eine Rolle qua Setting eingenommen wird, muss hier stillschweigend vorausgesetzt werden, um darüber unmittelbar zum Phänomen der Vertrautheit zu gelangen. Für diese Mini-Ethnografie genügt es also, die Rolle hinsichtlich einer bestimmten routinisierten Aufgabe innerhalb eines spezifischen Settings zu definieren. Für den Fall der Bäckerei könnte man vereinfachend die Handlung des Herstellens und des Verkaufens von der des Kaufens und des Konsumierens, also die Rolle des Verkäufers und die des Käufers resp. des Kunden voneinander unterscheiden.
[3] Diese kommunikative Fabrikation ist ohnehin die notwendige Bedingung für deren Beschreibung. Was der Ethnograf nicht sehen oder hören kann, darüber kann er auch nicht erzählen.
[4] Womit das zusammenhängt, bedarf einer eigenen Untersuchung. Dass hier aber der Aspekt des generationalen Arrangements eine zentrale Rolle spielt, liegt nahe. Was hier als intragenerationales Arrangement bezeichnet werden kann, wird im nächsten Abschnitt als intergenerationales Arrangement von zentraler thematischer Relevanz sein.
[5] Unterschiedlich hinsichtlich der Rolle, die die Person in diesem Setting einnimmt.
[6] Offenkundig kann die Reaktion der Frau auf das Kind wie oben als überakkommodativ definiert werden. Jedoch scheint die Frau wirklich in der Welt des Kleinkindes zu leben, sich also im Sinne einer echten Resonanzbeziehung auf das Kund einzulassen, wie nächst zu zeigen sein wird.
[7] Diese Reaktion ist natürlich keine Notwendigkeit. Der Ausdruck von Empörung oder Ablehnung wäre ebenfalls denkbar, geht aber aus dem Material nicht hervor.
[8] Selbstredend sind damit nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Neben einem interkulturellen Vergleich, leuchtet trotz dieser Annahme auch ein intrakultureller Vergleich ein. Welche Variablen innerhalb dieser groben Vergleichsschemata noch eine Rolle spielen – etwa das Geschlecht, die ideologischen Überzeugungen, die politische Positionierung, die Nationalität, das Alter etc. – kann hier nicht beantwortet werden, sondern nur Gegenstand und Fokus weiterer Beobachtungen sein.
Garfinkel, Harold/Sacks, Harvey (1976): Über formale Strukturen praktischer Handlungen, in: Elmar Weingarten/Fritz Sack/Jim Schenkein (Hg.): Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 130–176.
Giles, Howard/Coupland, Nikolas/Coupland, Justine (1991): Accommodation theory: Communication, context, and consequence, in: dies. (Hg.): Contexts of Accommodation: Developments in Applied Sociolingustics. Studies in Emotion and Social Interaction, Cambridge: Cambridge University Press, 1–68.
Giles, Howard/Gasiorek, Jessica (2011): Intergenerational Communication Practices, in: Klaus Warner Schaie/Sherry Willis (Hg.): Handbook of the Psychology of Aging, London: Academic Press, 233–247.
Giles, Howard/Williams, Angie (1994): Patronizing the Young: Forms and Evaluations, in: The International Journal of Aging and Human Development 39(1), 33–53.
Goffman, Erving (2019 [1959]): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp.
Thimm, Caja (2002): Alter als Kommunikationsproblem? Eine exemplarische Analyse von Gesprächsstrategien in intergenerationeller Kommunikation, in: Reinhard Fiehler (Hg.): Verständigungsprobleme und gestörte Kommunikation, Radolfzell: Verlag für Gesprächsforschung, 177–195.
Thomas, William I./Thomas, Dorothy S. (1928): The child in America. Behavior problems and programs, New York: A. Knopf.
Internetquellen
Bäckerei Evertzberg (o.J.): Über uns. https://www.evertzberg.de/ueber-uns/ (zuletzt abgerufen am 11.02.2024).
Duden (o.J.): Bäckerei, die. https://www.duden.de/rechtschreibung/Baeckerei (zuletzt abgerufen am 05.02.2024).