Na, wie läuft’s?
Volksläufe brechen einen Teilnehmerrekord nach dem anderen. Der Essener Firmenlauf 2024 meldet einen Rekord von 10.480 Finishern. Mehr als 11.000 laufen beim Münster Marathon mit. Und 40.000 möchten beim Berlin Marathon Ende September nach 42,125 Kilometer die Ziellinie überqueren. Immer mehr Menschen schnüren ihre Laufschuhe. Und laufen. Weil das Laufen doch so einfach ist. Das macht der Mensch schon seit 1,8 Millionen Jahren. Fuß vor Fuß setzen und das so schnell wie möglich. Nichts neues also?
von Celine Kreimer
07. November 2024
Journalistische und auftragsorienterte Texte
Auf heißen Kohlen: Laufschuhe mit Carbon gelten als die schnellsten, aber auch ungesündesten Laufschuhe. Sie werden vor allem auf Wettkämpfen und in schnellen Trainingsläufen getragen.
Doch, sogar ziemlich viel. Carbon ist auf einmal ein Thema. Eine Art Kohlenstoffplatte in der Mittelsohle der schnellsten Laufschuhe. Sie sorgt dafür, dass mehr Energie zurückgegeben und die Laufeffizienz gesteigert wird. Sie ist sehr umstritten in der Laufszene, weil sie der Endgegner der Achillessehne sein kann.
Dämpfung ist ein Thema. Und Polsterung. Und wie die Straße sich mit dem Laufschuh verträgt und ob zuerst der Vorderfuß, der Mittelfuß oder die Ferse den Boden berührt. Ein Tanz mit dem Teer.
Und ob die Schienbeine dann auch mitmachen, weil an jeder Ecke die Gefahr von “shin splits” lauert. Auf Deutsch klingt das noch viel gefährlicher. Schienbeinkantensyndrom. Beides meint eine Entzündung der Schienbeinvorderseite. Ganz unbegründet ist die Gefahr nicht: Sie machen etwa 13-17 Prozent der Laufverletzungen aus. So ein Schienbein kann auch mal brechen, wenn man übertreibt. “Überlastungsbruch” oder “Stressfraktur” heißt das dann.
„Um diese zu vermeiden, ist es wichtig, ein angemessenes Aufwärmprogramm durchzuführen, die Laufbelastung allmählich zu steigern, richtige Lauftechniken zu verwenden und auf Warnsignale des Körpers zu achten.”, erklärt Dr. Fabienne Kreimer, Ärztin in der kardiologischen Abteilung am Universitätsklinikum Münster.
Mit dem Herzen dabei: Dr. Fabienne Kreimer arbeitet in ihren Forschungen unter anderem mit Sportlern zusammen.
„Wichtig ist außerdem, dass richtiges Schuhwerk getragen wird. Das Tragen ungeeigneter Laufschuhe kann zu Verletzungen wie Schienbeinkantensyndrom, Plantarfasziitis und Fersensporn führen.”, sagt Kreimer.
Und anscheinend ist es wichtig, wie oft das Herz in der Minute pumpt, wenn man läuft. Und dass man 70-80 Prozent seiner Trainingsläufe in der aeroben Zone laufen sollte, also im Bereich von etwa 140-165 Schlägen pro Minute: „Laufen im aeroben Bereich verbessert die Leistungsfähigkeit des Herzmuskels, sodass das Herz effizienter pumpen kann.
Zudem wird durch das Laufen und ein regelmäßiges Training die Durchblutung des gesamten Körpers verbessert, einschließlich der Muskeln, Organe und des Gehirns”, erklärt Kreimer. “Im Allgemeinen empfiehlt die WHO Erwachsenen im Alter von 19 bis 64 Jahren mindestens 150 moderate aerobe Aktivität pro Woche durchzuführen.”
Herz-Kreis(Ausdauer)lauf: Laufen stärkt den Körper und seine Durchblutung. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigsten Todesursachen in Deutschland.
Um zur Gruppe der Läufer zu gehören, muss man sowas wissen. Man muss es nicht erklären können, aber wissen. Sonst gehört man auch nicht dazu. So einfach ist das mit den Gruppen. Laut Instagram gibt es noch ganz andere Aufnahmerituale. Tausende Reels und Posts erklären Laufanfängern in einem Ozean aus Imperativen die Do`s und Don`ts. Laufwesten werden erst ab Distanzen von 10 Kilometern getragen. Der Sonntag ist für “long runs” reserviert. Kompressionssocken sind ein Muss. Und Schienbein-, Oberschenkel- und Fußschmerzen gehören einfach dazu. Oder wo man sonst noch Schmerzen in seinen Beinen erfahren kann.
Kaum ein Läufer steht ohne Fitnessuhr an seinem Handgelenk an der Volkslauf-Startlinie. Oder im Büro, der Bahn oder der Supermarktkasse. Falls man da mal zum Sprint ansetzen muss oder so. Und keine verwunderten Gesichter, wenn Smalltalk über Brustgurte und Pulsmesser geführt wird. Dass immer mehr Menschen ihre Körper tracken, macht sich auch im Angebot und dem wachsenden Markt an Laufutensilien bemerkbar. Das Angebot und die Nachfrage, die haben ja wortwörtlich was am Laufen.
Läufer greifen auf technische Hilfsmittel zurück, um ihre Körper zu vermessen und Leistungen zu dokumentieren. Aus gelaufenen Kilometern werden getrackte Kilometer, Meter werden zu Daten und Daten werden zu Metern. Ein Zaubereffekt der Smartwatches.
Smartwatches haben sich als Gadget für Läufer etabliert. „Ein wirklich sehr, sehr wichtiges technisches Hilfsmittel ist für mich meine Garmin Watch. Einfach, um meine Leistungen zu tracken und eine Vergleichbarkeit zu haben. Und um mein Training zu planen.”, meint Nino Schlees, Physiotherapeut, Fußballer in der Kreisliga und treuer Fitnessstudio-Besucher. Er hat vor einem Jahr das Laufen für sich entdeckt. Die Fitnessdaten benötigt er für sein Training.
Die Zeit im Blick behalten: Nino Schlees trackt mit der Smartwatch von Garmin sein Training und seine Fitnessdaten.
Der Lauftrend muss Gründe haben. Vielleicht Eskapismus? Das würde bildlich total gut passen, weil es viel um`s Wegrennen und Kompensieren geht. Und weil (Weg)laufen ja eigentlich immer einfach ist. Dass man eine Distanz zwischen sich und seinen Problemen schafft, am besten so lang wie ein Marathon. 42.195 Kilometer Abstand gewinnen.
„Ich laufe um einfach für mich so ein Mittel zu haben, den Stress im Alltag loszuwerden, aber auch um fitter und leistungsfähiger zu werden“, sagt Schlees. Was als Vorbereitung für die Fußballsaison startete, hat sich als Routine gefestigt. Und als neues Hobby.
Nino Schlees hat einen Lauf: Der Physiotherapeut aus Horstmar geht seit einem Jahr regelmäßig laufen. Neben Krafttraining und Fußball hat sich der Laufsport zu einem seiner liebsten Hobbies entwickelt.
Vielleicht geht es auch darum, einen Schritt voraus zu sein. Am besten auf der Überholspur, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Oder hinterherzurennen. Es gibt ja auch keine Zeit zu verlieren, sagt man.„Ich würde schon sagen, dass die Zeit eine große Bedeutung für mich hat, weil ich doch mit mir selber sehr kompetitiv bin und probiere, mich zu verbessern und das ist natürlich irgendwo ein Parameter, den man ziehen kann, um sich selber zu vergleichen und dadurch einen weiteren Motivationsfaktor zu finden.”, sagt Schlees.
„Aber es geht natürlich nicht nur um die Zeit”, fügt er hinzu. „Es ist auch immer schön, an seiner mentalen Stärke zu arbeiten, weil es manchmal eine Überwindung ist, wenn man gerade keinen Bock hat und dann trotzdem so ein Training durchzieht. Danach ist man viel besser zufrieden, also selbst wenn es kein gutes Training war, dann geht es einem danach so viel besser, dass ich es eigentlich nicht mehr missen möchte.”
Die Beine in die Hand nehmen: Nino Schlees läuft, um seinen Kopf freizubekommen.
Wahrscheinlich geht es auch viel um Selbstoptimierung. Heute schneller zu sein als gestern und den ein oder anderen Muskel mehr spüren oder sehen zu können. Am besten beides. Deswegen bleiben persönliche Erfolge auch kein Geheimnis. Läufer teilen auf Instagram oder speziellen Lauf-Apps wie Strava oder Adidas-Running gelaufene Strecken und neue Rekorde. Strava hat rund 120 Millionen Benutzer aus über 190 Ländern.
Das formt einen Wettbewerb, der online ausgetragen wird. Das ist dann nur indirekt kompetitiv, aber trotzdem ein Wettbewerb. Und zwar einer um Aufmerksamkeit und Wahrnehmung und Bestätigung durch den Vergleich. Und um Profilierung, ohne die wir vielleicht kaum noch Dinge machen können. Wer seinen Marathon nicht postet, der ist ihn nicht gelaufen.
Einen Realitätsabgleich bieten Volksläufe. Volksläufe sind faszinierende Orte. Sie haben eine ganz eigene Dynamik. Und sie sind irgendwie verdammt ehrlich. Nirgendwo ist der Körper ehrlicher und lauter als auf der Laufstrecke. Dort kann er sich nicht belügen. Und auch die Transponder für die Zeitmessung, die in den Startnummern integriert sind oder als kleine Bändchen an die Laufschuhe gebunden werden, lügen nicht. Dafür sind die teuren Zeitmessanlagen selbst auf Volksläufen in Beerlage-Holthausen oder Büren- Brenken zu professionell. Rund 600 Volksläufe finden im Jahr 2024 allein in NRW statt.
An den Startlinien treffen sich Läufer und Läuferinnen allen Alters, unterschiedlicher Fitnesslevel und Körper. Unterschiedliche Biographien haben für einen Moment das gleiche Ziel. Der größte Gegner ist die eigene Bestleistung. Man misst sich nicht an Welt-, sondern an persönlichen Rekorden. Und ob ein Lauf erfolgreich war, das bestimmen die eigenen Erwartungen. Manchmal springen für die Sieger Gutscheine für die lokale Eisdiele heraus. Oder Pokale. Und manchmal auch ein kleines Preisgeld.
An den Straßenrändern stehen Zuschauer und feuern an. Jede Leistung, jede Zeit, jeder Läufer wird beklatscht und über die Ziellinie getragen. So unmittelbar kommt man selten an Anerkennung.
Applaus, Applaus: Die zahlreichen Zuschauer bejubeln die Teilnehmer des Münster-Marathon 2024.
Das bunte Warten auf die Marathonläufer: Die Altstadt in Münster ist gefüllt mit Zuschauern. Sie beklatschen nicht nur die Elite-Läufer, sondern auch diejenigen, die bis zu 4h länger unterwegs sind.
Alkohol, Drogen, Glücksspiele. Und das Laufen. Das hat eigentlich nicht viel miteinander zu tun. Oder irgendwie doch? Es ist vielleicht die Abhängigkeit. Jeden Tag die Kilometer zu jagen, weil man sie jagen muss. Immer mehr, immer weiter, immer schneller. Und wenn das nicht geht, dann ist der ganze Tag kaputt und verschwendet. Entzug quasi. Laufsucht nennt man das.
Und sie teilt sich mit Alkohol-, Drogen-, oder Glücksspielsucht das, was alle Süchte kennzeichnet: Abhängigkeit, Kontrollverlust, Konsum immer größerer Mengen und sozialen, gesundheitlichen oder psychischen Schaden in Kauf zu nehmen. Und extreme Verbissenheit. Aber es klingt so schön gesund und so schön unproblematischer, wenn man sechsmal die Woche läuft, als zu sagen, dass man sechsmal die Woche Ketamin nimmt. Unpassender, schwieriger Vergleich? Aber vielleicht auch nicht.
Essstörungen stehen in nachweislicher Verbindung zum Laufsport und andersherum. Viele Läufer hatten oder entwickeln ein problematisches Verhältnis zum Essen. Zahlreiche Studien belegen das. Bis zu 20 Prozent der Leistungssportler haben Essstörungen. Dazu kommen Dunkelziffern, auch die von Hobbysportlern. Oft sind die schnellen Läufer und Läuferinnen doch sehr dünn. Weil sie so viele Kilometer laufen und so viele Kalorien verbrennen und weil man auf den Laufstrecken besser fliegen kann, wenn man leichter ist. Aerodynamik und so. Der wohl bekannteste Marathon-Läufer Eliud Kipchoge wiegt 52 Kilogramm. Aber manchmal ist das Dünn-Sein nicht nur Resultat, sondern auch Norm oder Ziel oder Zwang.
Das mit dem Zusammenhang zwischen Essstörungen und dem Laufsport, das hat Gründe. Die Strukturen ähneln sich: Konkrete Ziele, Kontrolle und die Gewissheit, Kalorien verbrennen zu können. Im Durchschnitt 360 Kalorien in 30 Minuten. Daten, Zahlen, Statistiken. Strukturen, in denen sich Suchtanfällige wohlfühlen. Strukturen, die ein Auffangbecken bieten. Und Strukturen, die Stoff bieten, um Suchtverhalten unter dem Deckmantel der Fitness verstecken zu können.
Laufen meint Bewegung. Egal in welche Richtung. Es bedeutet dann doch wohl viel mehr als nur den einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wie schnell, das entscheidet die Biographie.
Volksläufe haben ihren Hype verdient. Die Teilnehmerzahlen werden weiterhin steigen und damit auch die Geschichten, die auf Volksläufen zusammentreffen. Die Lebensläufe. Und wahrscheinlich auch die Verkaufszahlen von Smartwatches, Brustgurten und Kompressionssocken.