Geh‘ doch mal in die Farbe - Eine Unterhaltung mit Künstlerin Jannine Koch über das Studium der freien Kunst, Freiberuflichkeit und das Reisen

Wenn man zur Essener Radierwerkstatt Aqua Tinta gelangen will, durchquert man einen Frohnhausener Hinterhof, den man auch für einen verzauberten Garten halten könnte. Die Sonne scheint unverblümt auf den von Blumen und Büschen gesäumten, schmalen Weg. Wenn man eine dunkelblaue Tür mit zwei aufgemalten Augen sieht, ist das Ziel erreicht. Das Motto dieses Ortes lautet „Arbeiten, wo Andere Urlaub machen.“ Die hinter der Tür liegende Werkstatt duckt sich in das Getümmel des Gartens. Wenn die Sonne scheint, wird der doch recht kleine Raum von Licht durchflutet. Es gibt eine Etage mit Galerie, deren Wände mit Werken der hier arbeitenden KünstlerInnen gesäumt sind.

von Lara Gössinger

11. September 2024

Journalistische und auftragsorientierte Texte

Blick von der Galerie ins Atelier und die Arbeitsflächen

Blick von der Galerie auf das Farbregal und in den Garten

Viele davon hat Jannine Koch selbst gestaltet und erstellt. Während sie Kaffee kocht, darf ich mich ein wenig umsehen und bestaune die vielen kleinen Details an diesem Ort. Besonders faszinierend sind die beiden Radierpressen, die das Herzstück des Raumes bilden. Sie wirken aus der Zeit gefallen, aber hier werden sie trotzdem noch genutzt. An den Fensterseite der Werkstatt stehen metallene Tische und Regale, in denen neben Druckwalzen und Linolbesteck auch verschiedenste Farben aufbewahrt werden.

Die Schätze der Werkstatt – die zwei antiken Radierpressen

Detailaufnahme des Gewindes der Radierpresse

Nach einer Weile führt Jannine mich in die Kammer des Schreckens, wie sie spaßhaft den Ätzraum im Keller bezeichnet. Die Werkstatt ist nämlich auf den Tiefdruck und damit auch auf Ätztechnik sowie Druckgrafik spezialisiert. Wir betreten einen kleinen Raum, der nur spärlich beleuchtet ist. Möbliert ist er mit einer Ätzwanne, einem antiken Puster und einem Regal, in dem die Materialien, wie Natron zum Anmischen der Ätzlösung aufbewahrt werden. Der Name Kammer des Schreckens passt also. Der Prozess des Ätzens ist langwierig und sehr aufwendig. Es kann mehrere Tage dauern, bis eine Platte druckfertig ist. „Das Spannende an dieser Technik ist, dass man nie genau wissen kann, wie das Werk am Ende aussehen wird.“, lacht die 42-Jährige und zeigt mir zwei ihrer Drucke.

Die Kammer des Schreckens mit Ätzwanne

Das Regal des Schreckens – hier werden die Materialien für den Ätzvorgang aufbewahrt

Arbeitsfläche im Ätzraum – hier wird die Metallplatte bearbeitet

Die Frau der vielen Talente

Die freischaffende Künstlerin arbeitet sehr filigran. Ihr Hauptthema in der Druckgrafik sind Insekten in Kombination mit anderen Elementen. Mal sind es Musiknoten, in einer anderen Arbeit sind es abstrakte Formen. Aber auch andere Disziplinen sind Teil von Kochs Kunst, beispielsweise Handzeichnungen. Mit Handzeichnungen sind hier Zeichnungen gemeint, die mit Bleistift, Kohle und Grafit erstellt wurden. Dabei handelt es sich nicht um naturalistische Zeichnungen, sondern eher um abstrakte Werke, die durch bestimmte Wischtechniken verfremdet werden. Bei Jannine Koch bestehen diese Werke meist aus geometrischen oder abstrakten Figuren und Motiven. Auch die Malerei liegt Koch sehr. Dabei greift sie auch gerne aktuelle politische Themen, Krieg, Gewalt und die digitale Entwicklung auf. Diese Themen sind aber nicht dazu gedacht, um anzuecken oder persönliche Ängste auszudrücken. Es geht viel mehr darum, auf gesellschaftlich relevante und für Jannine Koch wichtige Themen hinzuweisen. Inspiration entsteht bei ihr durch den persönlichen Alltag, etwa beim Abwaschen, Joggen oder bei ganz banalen Tätigkeiten, die nicht darauf gepolt sind, eine Inspiration hervorzurufen. „Es kommt beiläufig.“ erzählt die Künstlerin. Eine Art Kreativblockade oder auch artblock genannt gibt es bei Jannine deswegen nicht. Die Routine und die tägliche Übung tragen dazu bei, dass immer etwas Neues entstehen kann. „Ich nehme heute mein Blatt und dann zeichne ich was. Es geht einfach um das Machen. Routine und Regelmäßigkeit sind 70% des Erfolgs. “, sagt die Künstlerin. Sie vergleicht das Erschaffen von Kunst oft mit der Kondition eines Joggers, der mehrmals in der Woche trainiert. Es wird mit der Zeit zu etwas ganz Natürlichem, etwas, worüber man nicht die ganze Zeit nachdenkt, oder den Druck hat auf den Punkt große Kunst erschaffen zu müssen. Trotzdem dauert es unterschiedlich lang, bis ein Werk fertig gestellt ist. In der Druckgrafik geht es häufig relativ schnell, es entstehen Selbstläufer. In der Malerei kann es aber auch bis zu einem halben Jahr dauern, bis ein fertiges Produkt entstanden ist. Die Künstlerin geht dementsprechend auch nicht aus Inspirationsgründen ins Museum oder auf Reisen. Es braucht alles seine Zeit. „Urlaub muss Urlaub bleiben, vor allem bei kreativen und freiberuflichen Arbeitstätigkeiten.“, bestätigt sie.

Frei, wie ein Vogel oder so

Aber was ist Freiberuflichkeit, was macht den selbstgewählten Beruf aus und wie kommt man überhaupt dazu? Laut dem Einkommensteuergesetz §18 EstG ist man ein Freiberufler, wenn man „selbstständig ausgeübte wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische […] Tätigkeiten betreibt.“ Eine etwas weniger förmliche Definition beschreibt die Freiberuflichkeit als eine Form der Selbstständigkeit, die bestimmte Qualifikationen oder kreative Fähigkeiten erfordert. Freiberufler sind meistens im Dienstleistungssektor tätig. Oft bedeutet das, dass diese Menschen keine Massenproduktionen oder Handelstätigkeiten betreiben. Der Fokus liegt dabei auf Individualität, Detail und Qualität. Trotz allem scheint aber das Finanzamt ein wichtiger Bestandteil der Branche der Freiberuflichkeit zu sein. Der Fokus liegt also nicht nur auf den schönen Dingen. Die Definition nach dem Einkommensteuergesetz ist dementsprechend nicht unwichtig.  Im Jahr 2022 waren in Deutschland etwa 1.471.000 Personen freiberuflich tätig, das ergeben Statistiken. Trotz der Corona-Pandemie stieg die Zahl der Menschen, die in diesen Berufszweigen tätig sind im Vergleich zu den Vorjahren deutlich an. Bei vielen ist der Einstieg in die Selbstständigkeit und den freien Beruf durch ein geliebtes Hobby gegeben. Das Hobby zum Beruf machen ist dabei ein beliebter Spruch. Bei Jannine Koch war der Weg dahin allerdings anders. Ihr Potenzial und den Wunsch Künstlerin zu werden entdeckte sie erst spät.

Der Traum von der Kunst

Viele KünstlerInnen entdecken den Spaß am kreativ sein schon im Kindergartenalter. „Meine Kindergartenzeichnungen sind auch im Nachhinein betrachtet nicht gut.“, stellt Koch schmunzelnd fest. Bei ihr kam der Spaß an der Kunst erst mit etwa 15 Jahren auf. Ein Austauschprogramm auf Island, an dem sie für ein Schuljahr teilnahm, weckte dabei ihr Interesse. Die sprachliche Barriere machte die Kunst damals vom Mittel zum Zweck. Sie wurde eine Möglichkeit sich auszudrücken, ohne die isländische Sprache zu beherrschen. Durch den besonders geförderten Kunstunterricht an der Schule, konnten die SchülerInnen sich künstlerisch austoben und somit viele verschiedene Techniken, Materialien und Themengebiete erforschen.

Jannine Koch zeigt einen ihrer neuesten Drucke

Drei geätzte Druckplatten

Mit diesen Walzen wird die Farbe auf die Druckplatten aufgetragen

Jannine beschreibt diesen Austausch als den Anfang ihrer Reise in der Kunst. Aus diesen Erfahrungen entwickelte sich für die Künstlerin ein Bedürfnis weiter Dinge zu malen und zu erschaffen. Wieder in Deutschland zurück besuchte Koch einen Kurs und lernte dort das Zeichnen. Durch die Lehrerin des Kurses entwickelte sich schnell die Idee freie Kunst zu studieren.  Trotz des fehlenden Praxisbezugs in ihrer Kindheit und Jugend reichte Jannine Koch eine Bewerbungsmappe an der Hochschule für Bildende Künste Dresden ein. Es folgte eine Absage. „Da habe ich dann aber gemerkt, dass ich das unbedingt machen will.“, berichtet Koch. Letztendlich klappt es dann an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Die freischaffende Künstlerin steht dem Bewerbungsprozess an Kunsthochschulen dennoch positiv gegenüber. Das Konzept, dass man sich für einen künstlerischen Studiengang nicht nur einschreiben muss, sondern auch an einer Eignungsprüfung teilnehmen muss, erscheint ihr als sehr sinnvoll. Es sichert ab, dass alle Studierenden auch wirklich interessiert sind und das Studium nicht oder nur in seltenen Fällen abbrechen. Bereits im Studium der freien Kunst findet Koch Gefallen an vielerlei Disziplinen.

Radierwerkzeuge – Mit diesen Geräten werden kleinere Details and den metallenen Druckplatten ergänzt

Unterschiedlichste Materialien für die Druckgrafik

Kein Matheunterricht – diese Materialien werden für die Kunst genutzt

Damals lag ihr Interesse allerdings eher auf der analogen Fotografie. Der Prozess dieser Art von Kunst war für die Künstlerin besonders faszinierend. Die Druckgrafik rückte erst später in den Fokus. Dadurch, dass es der 42-Jährigen, laut eigener Aussage, an einer gewissen Technik mangelte, musste sie sehr fleißig sein und sich mehr anstrengen als die meisten anderen. Dafür war sie sehr an den Theorieveranstaltungen interessiert. Eine Abneigung hegte die Künstlerin allerdings gegen den Kurs des Aktzeichnens. Der Fokus in diesem Zweig der Kunst liegt dabei auf der Genauigkeit und der Naturnähe der Zeichnung. Alles figürliche war dementsprechend eine eher schwierige Aufgabe. Nach zwei Jahren des Grundstudiums folgte das Studium in der Fachklasse, also die Spezialisierung auf die eigenen Themen und künstlerischen Schwerpunkte. Besonders stolz ist Koch aber auch heute noch auf ihre Diplomarbeit. Drei Jahre lang widmete sie sich intensiv dem Thema des Holocausts und produzierte viele verschiedene Werke dazu. „Ich möchte aber nicht als Malerin wahrgenommen werden, die nur mit dem Holocaust in Verbindung gebracht wird. Dazu fehlt mir die persönliche Anbindung zum Thema, weil ich keinerlei Vorfahren habe, die damit eine persönliche Geschichte haben.“, erläutert sie. Ihr Interesse veränderte sich später im Meisterschülerstudium hin zu mehr abstrakten und skulpturalen Zeichnungen. Auch das Interesse an der Druckgrafik stieg und brachte ihre am Ende des Studiums ein Stipendium ein. Dadurch erhielt sie die Möglichkeit, durch ihre nun sehr ausgeprägten Fähigkeiten und Techniken, in der Druckgrafik unterstützt zu werden. „Die haben gesagt, geh‘ doch mal in die Farbe.“, berichtet Jannine. Bis heute beeinflusst ihre Zeit im Stipendium und die Zusammenarbeit mit den Menschen dort ihre Kunst. Vor allem die Arbeit mit neuen und unterschiedlichsten Farbkombinationen zeichnen ihre heutigen Werke aus.

„Man muss mutig sein und willensstark […]“

Aus persönlichen Gründen war es für Koch nach dem Studium zunächst nicht möglich zu arbeiten. Diese Unfähigkeit der persönlichen Leidenschaft und dem selbstgewählten Beruf nachzugehen bestärkte die Künstlerin allerdings darin genau das Richtige zu tun und den richtigen Weg gegangen zu sein. „Man muss mutig sein und willensstark, um sich das zu trauen. Ich habe nach dem Studium auch überlegt, ob das jetzt nur so ein blauäugiges Ding von mir ist, dass ich Künstlerin sein will. Das ist ja auch ein großer Begriff.“, beschreibt Jannine ihre innere Unsicherheit. Doch durch die Pause, wurde der Wunsch nur bestärkt. Deswegen war es umso wichtiger neue Standbeine, Kontakte und Mitgliedschaften in Ateliers aufzubauen. Zu Beginn arbeitete Koch in einem Museum und entdeckte dort die Fähigkeiten des Sprechens und des Schreibens für sich. Diese nutzte sie, um sich finanzielle Sicherheiten und weitere Standbeine aufzubauen. Diese bestehen beispielsweise darin Eröffnungsreden zu halten oder Katalogtexte zu verfassen. Heute ist es für die Künstlerin möglich von ihrer Kunst zu leben. Besonders wichtig sind dabei ihre Teilnahme an Ausstellungen in Museen, Buchläden oder Bankfilialen. Aber auch eigene Projekte und Auflagen sind für die Künstlerin von großer Bedeutung. Für sie scheint es, als hätte sie ihren Weg und ihre Bestimmung, die Kunst, für sich gefunden.

Das Wandern ist des Künstlers Lust

Doch all das konnte nicht ohne das Reisen entstehen. Alles fing mit dem Austausch nach Island an. Im Studium folgte ein Auslandssemester in New York und eines in Frankreich. Später begab sich die Künstlerin auf eine Reise nach Indien. Koch schwelgt in Erinnerungen: „Auf Island war es für mich super, dass der Kunstunterricht so gut gefördert wurde, viel mehr und besser als hier in Deutschland.“. Viele KünstlerInnen finden ihre Inspiration durch das Reisen, den Kontakt mit anderen Kulturen oder einem neuen Umfeld. Für Jannine Koch dient das Reisen allerdings nicht zur Inspiration, sondern zur Persönlichkeitsentwicklung. Ihre künstlerischen Vorbilder sind aber Otto Dix oder Max Beckmann. Das Reisen steigerte Kochs Selbstbewusstsein und die Fähigkeit der Selbstständigkeit. Auch der Umgang mit einer fremden Sprache half ihr enorm dabei ihre Persönlichkeit zu formen und zu finden. Ihr Aufenthalt in New York fand noch im Studium statt. Dabei hat die Stadt einen nachhaltigen Eindruck auf sie hinterlassen. Für einen Menschen, der gar nicht so sehr ein Großstadtmensch ist, wie Jannine, beeindruckte die Stadt sie mit ihrer Energie und Lebendigkeit. Die Stadt, die niemals schläft, hält offenbar ihr Versprechen. „Reisen muss man auf jeden Fall, weil das extrem bildet. Ich denke das ist das, was dich dann als Künstlerin unverwechselbar macht. Die Art und Weise, wie du die Welt siehst.“, erklärt die Künstlerin. Reisen und fremde Sprachen verändern einen Menschen und sein Wesen. Es verändert die Art, wie man sich gibt, wie man mit anderen Menschen kommuniziert und interagiert. Nicht umsonst gibt es die These, dass man mit jeder neuen Sprache, die man beherrscht auch ein ganz neues Weltbild erlernt. Durch die vielen neuen Details und Ausdrücke einer Sprache, ist man gleichzeitig beschränkter in der eigenen Ausdrucksweise, aber auch wesentlich freier. In diesem Sinne nimmt vielleicht auch Jannine Koch eine Inspiration aus ihren Reisen mit. Vielleicht nicht in Form einer Idee, aber in Form von einem Gefühl, einer Erinnerung oder einem neu gelernten Wort in einer fremden Sprache.