Transformers der Mode – Die Künste der Änderungsschneiderei

Faden für Faden arbeiten Schneider im Hochtempo mit dem Wandel der Modetrends. Änderungsschneidern kommen dabei eine besondere Aufgabe zu: Sie ändern, reparieren und modernisieren die Kleidungsstücke je nach aktuellem Stil. Sind sie dennoch vor dem Handwerkssterben gesichert? Ein Gespräch mit Schneider Coskun Gercek.

von Beyza Yildiz

11. September 2024

Journalistische und auftragsorientierte Texte

Die Änderungsschneiderei Gercek mit offenen Türen in der Recklinghäuser Innenstadt.

Zara, H und M, Mango oder Bershka – das sind meistens die Antworten darauf, wo die junge Leute ihre Kleidung einkaufen. Die Klamotten sind immer auf den neuesten Modetrends abgestimmt und sind zu günstigen Preisen zu erhalten. Früher wurden je nach Jahreszeit neue Kollektionen von Designern und Modegeschäften rausgebracht, doch heute können sich die Kollektionen bereits in wenigen Wochen ändern. Grund dafür ist meistens das Internet, vor allem die schnelle Verbreitung von einzelnen Modetrends oder gar einzelnen Kleidungsstücken. Ganz abgesehen davon, dass die Industrialisierung eine Massenproduktion von Konfektionsware überhaupt ermöglicht hat. Mal ist es eine graue Lederjacke, manchmal aber auch einfach nur ein Haarreif. Instagram- und TikTok-User fahren darauf ab, immer auf dem neuesten Stand der Mode zu sein. Während man früher einen Anzug maßschneidern lassen hat und jahrelang getragen hat, bestellt der durchschnittliche Bürger nach sechs Monaten erneut ein Set an Kleidung. Wenn einem Mal die Größe nicht passt, kauft man sich einfach eine Nummer größer oder kleiner dazu. Zurückgeben kann man sie ja immer. Bedeutet das, dass den Schneidereien die Arbeit weggenommen wird? Sind Änderungsschneiderein redundant geworden, oder ist das nur ein einseitiger Gedanke? Diese Fragen trieben mich in eine unauffällige Schneiderei in Recklinghausen, die Antworten und die Handwerksleistung aber umso bemerkenswerter.

Die Modetour durch Europa mit Endstop in Deutschland

Coskun Gercek ist seit ungefähr 40 Jahren Schneider. Der 52-jährige betreibt seine eigene Änderungsschneiderei zentral in der Innenstadt von Recklinghausen und hat bereits als kleiner Junge Einblicke in das Handwerk bekommen. Geboren ist Gercek in der süd.stlichen Provinz namens Sanliurfa in der Türkei. Auf dem ersten Blick in die Änderungsschneiderei fällt einem direkt die Sorgfalt und Organisation der Schneiderei auf. Der Schneider ist nämlich perfektionistisch in seinem Handwerk – das begründet seine treue und große Kundschaft.

Der Schneider legt Wert auf eine gestalterische Bedienungsstelle.

Umkleidekabinen, Sitzmöglichkeiten, eine gemütliche Atmosphäre und natürlich das Wichtigste: die Nähmaschinen. All dies sorgt für Wohlgefühl nur beim ersten Besuch. Der leidenschaftliche Schneider hat von seinem äußerst interessanten Lebenslauf erzählt. „Seit 20 Jahren bin ich in Recklinghausen, aber davor habe ich bei Baltz in Bochum gearbeitet. 2003 habe ich dann mein eigenes Geschäft geöffnet.“ Dabei ist sein Stolz kaum zu übertreffen. Äußerst erstaunlich ist, wie vielfältig sein Werdegang bisher gestaltet ist. „In der Türkei habe ich das Maßschneidern gelernt. Danach war ich fünf Jahre in Paris und habe dort für Kookai und Lafayette gearbeitet.“ Die nächsten Stationen seien Wien, Belgien und Venedig. Letztendlich hat es ihn nach Deutschland getrieben, was ihn durch seinen Erfolg als selbstständiger Änderungsschneider bis jetzt hierbleiben ließ. Coskun Gercek war wie viele anderen Selbstständigen betroffen von den bitteren finanziellen Folgen der Pandemie. Zu der Frage, ob er Mitarbeiter habe, antwortet er mit einem halblächelnden Gesicht: „Ich hatte eine Mitarbeiterin, aber sie war so nett und hat selbst zur Corona-Zeit gekündigt.“ Zwischendurch helfen ihm seine Frau oder seine Kinder.

Made in Turkey

Coskun Gercek erzählt mir, dass fast alle seiner Geschwister als Schneider und Schneiderinnen arbeiten. Die Ausnahme sei sein Bruder, der Bürgermeister sei. Eine Schuhfabrik gehöre seinem weiteren Bruder. Das Schneidern wurde ihm offensichtlich in die Wiege gelegt. Doch die familiäre Tauglichkeit mit Nadel und Faden ist nicht der einzige Grund für seinen Erfolg. Die Türkei legt viel Wert auf die Textil- und Bekleidungsindustrie, welche 3000 Jahre zurückgeht. Als Scharnier zwischen Europa und dem Nahen Osten übernimmt die Produktion von Textilien eine wichtige Rolle. Vor allem Konfektionsware holt einen großen Teil der Exporte ein. Laut der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handwerkskammer betrug der Export von Textil-, Konfektions- und Lederware ungefähr 30 Millionen Dollar. Außerdem ist das Land Europas drittgrößter Prêt-á-Porter Exporteur. Das bedeutet, dass es sich um Konfektionskleidung nach dem Entwurf eines Modeschöpfers handelt, so wie wir es dann schließlich im Geschäft einkaufen

„In meiner Hand ist immer eine Schere.“

Obwohl er in seiner Schneiderei nur Änderungsarbeiten vornimmt, erreichen ihn trotzdem private Anfragen zu Maßschneiderungen und Entwürfen zu neuen Modedesigns. Trotz enormem Zeitdruck nimmt er die Wünsche gerne an und kombiniert seine fachlichen Kompetenzen mit den Ideen der Kunden. Leider ist seine Haupttätigkeit auf Änderungsarbeiten beschränkt. „Ich habe viel auf Maß geschneidert, z.B. Anzüge, Röcke, Jacken, Abendkleider und sogar Brautkleider. Aber momentan habe ich keine Zeit.“ Dabei zeigt er auf die befüllte Garderobenstange, die die Hälfte einer Wand in der gesamten Schneiderei einnimmt. „Das alles habe ich noch nicht fertig.“ Da hat man als Außenstehender gestutzt.

In Deutschland dauert die Ausbildung zum Änderungsschneider zwei Jahre, zum Maßschneider drei Jahre. Wer aufsteigen möchte, kann eine dreijährige Ausbildung zum Modeschneider und Modenäher absolvieren. Hier gibt es aber ein Problem an der Sache: Der Schneiderberuf ist nicht geschützt. Das bedeutet, dass Handwerksinteressierte eine Schneiderei eröffnen können, ohne die entsprechende Ausbildung zu haben. Das scheint der Grund dafür zu sein, warum Schneidereien und die erbrachten Leistungen so variieren können. Manche melden ein Gewerbe an und nutzen ihre Wohnung als Schneideratelier und versuchen mit einer Nähmaschine auszukommen. Andere, wie Coskun Gercek, haben jahrelange Erfahrung und versuchen mit speziellen Nähmaschinen und Techniken die Besonderheiten der Stoffe zu bewahren. Gerceks Mentalität entspricht der, die wir von Spitzensportlern gewohnt sind: Wenn du etwas erreichen möchtest, musst du der Beste sein. Coskun sagt: „Schlechte Leistung kann jeder erbringen. Aber wenn man seinen Job liebt und seine gesamte Energie in die Zukunft setzt, dann ist Erfolg unvermeidlich.“

Dürkopp Adler, Singer oder Brother – Gercek hat alle im Besitz

Eine der zahlreichen Industrienähmaschinen in der Schneiderei, die Gercek bei seinem Talent unterstützen.

Coskun Gercek zeigt mir seine Ausstattung. Es befinden sich sechs Nähmaschinen im Vorraum. Jede davon habe eine unterschiedliche Funktion und sei nur für bestimmte Stoffe geeignet, weil sie andernfalls den Stoff beschädigen könne. Die Professionalität in der Schneiderei Gercek erkennt man daran, dass Gercek sein eigenes System aufgebaut hat. Die Anordnung der Maschinen in einer U-Form ermöglicht es ihm schnell von Stuhl zu Stuhl zu wechseln und später die Kleidung zu bügeln. Von der Bügelstation braucht er nur einen Schritt weitergehen und zack – die Ware hängt zum Abholen bereit auf der Stange. Er gewährt mir ebenfalls einen Blick in den Hinterraum, wo sich alte Pelze und Leder über die hohen Decken verteilt haben. Obwohl Gercek keine Änderungen mehr an Pelz vornimmt, braucht er hin und wieder Lederstücke, um Taschen oder Motorradhosen zu reparieren. Als würden die zahlreichen Nähmaschinen an seinem eigentlichen Handwerksort nicht ausreichen, stehen im Hinterraum zwei weitere Maschinen für bestimmte Stoffe. Im Keller seien noch zehn weitere. „Wenn es in einem Beruf spezielle Maschinen gibt, dann sollte man sie auch meistern können. Dadurch wird alles schneller.“ Bis ins 19. Jahrhundert haben Handwerker und Handwerkerinnen im Schneiderberuf die Textilien mit der Hand bearbeitet. Mit der Erfindung der Nähmaschine hat die maschinenunterstützte Arbeit in Schritten die Handarbeit ersetzt. Die Vorteile einer Nähmaschine sind heute kaum zu unterschätzen – allein in wenigen Minuten hat Coskun eine Hose gekürzt, gebügelt und zu den fertigen Aufträgen aufgehängt.

Konzentriert näht Coskun die gekürzten Hosenbeine an der stoffgerechten Nähmaschine.

Der letzte Schritt vor dem Abschluss ist das sorgfältige Bügeln der gesamten Hose an der Bügelstation.

Angefertigte Eleganz oder Massenmode: Ist der Gang zum Schneider noch zeitgemäß?

Gerceks Kundschaft bestehe aus einer gemischten Altersgruppe und ohne auffällige Verteilung in Damen- oder Männerkleidung. Dazu arbeitet der erfahrene Schneider mit vielen Geschäften wie Sinn Leffers, Peek und Cloppenburg, Wellensteyn und mehr. Diese befinden sich ebenfalls in der Innenstadt, sodass eine lokale Kooperation die Mode in Recklinghausen im Gange hält. Seit Ende des 20. Jahrhunderts hat sich unser Konsumverhalten stark geändert. Kleidungen sind nun Verbrauchsartikel und nicht mehr auf Maßschneiderungen angewiesen. Während der halbe Monatslohn vor 100 Jahren für einen teuren Anzug zur Seite gelegt wurde, kauft man sich heute einen Neuen und ersetzt ihn sobald eine kleinste Macke am Ärmel ist. Das scheint für den Verbraucher erstmal logisch zu sein, denn die Reparaturarbeit in einer Schneiderei mag genauso viel kosten wie die Neuanschaffung desselben Produkts. Das liegt daran, dass Handwerksleistungen in Deutschland teurer werden. Denn die Arbeit für die Herstellung eines maßgeschneiderten Anzugs hat sich seit 100 Jahren trotzdem nicht geändert. Die verringerte Nachfrage an maßgeschneiderter Kleidung mag auf dem ersten Blick wie eine Bedrohung für das Handwerk erscheinen. Doch Konfektionskleidung und Massenproduktion erhöhen den Bedarf an Änderungsarbeiten. Coskun zeigt eine Anzugsjacke, die er um drei Größen verkleinert hat. „Die Konfektion ist reine Akkordarbeit. Zum Beispiel näht man den ganzen Tag nur Hosentaschen.“, erklärt Gercek. „Im Vergleich zu Änderungen sind Konfektion und Maßschneidern einfach.

Vernünftige Änderungsarbeit ist sehr schwer.“ Er behauptet, dass er in 12 Minuten eine neue Hose herstellen kann. Aber nur eine Hose zu kürzen, beanspruche 20 Minuten seiner Zeit. An der gewünschten Stelle schneiden, abmessen, nähen und dann bügeln. Das alles muss Gercek mehrfach am Tag wiederholen. Er erwähnt außerdem, dass ein guter Schneider die Kunden so beraten muss, dass er auf ehrliche Art und Weise die Passform der Kleidung am Körperbau bewertet. Das ist ein Riesennachteil der Fast-Fashion Industrie – die Kleidung sitzt in den seltensten Fällen so, wie sie sitzen muss. Hier springt die Änderungsschneiderei ein. „Ein Modedesigner kann natürlich neue Kollektionen entwerfen. Aber diese werden an Models angefertigt. Die Menschen, die die Kleidungen tragen werden, sind aber keine Models.“ Auch wenn die Textilindustrie enorm durch Massenproduktion an Umsatz generiert, liegt die Verantwortung der passenden Form der Kleidung in den Händen eines Änderungsschneiders. Menschen entsprechen eben nicht den Laufstegproportionen.

„Es ist wie eine Krankheit geworden.“

Coskun Gercek hat es trotz reichlicher Kundschaft nicht einfach. Die Schneiderei hat unter der Woche von 9.30 Uhr bis 19 Uhr geöffnet, samstags nur bis 14 Uhr. Seine Arbeitszeiten strecken sich aber weit über die Öffnungszeiten. Er arbeitet meistens auch an Sonntagen, um die Aufträge rechtzeitig zu erledigen. Der Schneider ist der Meinung, dass es schwierig ist, einen Beruf erfolgreich auszuüben und gleichzeitig ein erfüllendes soziales Leben zu führen. „Wer diese Arbeit machen möchte, braucht viel Geduld. Es ist harte Arbeit.“ Ein Grund dafür ist der Umfang an Wissen um Bekleidung. Modedesigner konzentrieren sich in den meisten Fällen auf bestimmte Kleidungsarten. Manche entwerfen lieber Schnittmuster für Jacken als für Kleider, andere bevorzugen lieber Hosen. Ein Änderungsschneider hat aber nicht die Möglichkeit, nur eine Art von Kleidung zu präferieren. Alles, was ihm an der Kasse überreicht wird, muss er ändern, reparieren oder modernisieren. Und das mit höchster Acht auf die Merkmale und Besonderheiten der Schnitte und Stoffe. Ob es ein Rock ist oder ein BH – Coskun Gercek hatte bereits tausende Klamotten unter der Maschine. Er spricht an, dass es natürlich starke Unterschiede zwischen handelsüblicher und preiswerter Kleidung gibt. Dabei geht er auf die Wichtigkeit eines hochwertigen Garns ein. Die Schneider in einer Massenproduktionsfabrik nähen als erstes das gesamte Kleidungsstück in weißer Farbe fertig. Erst im letzten Schritt bekommt das Stück die Farbe, indem es schlichtweg in die Farbe eingetaucht wird. Dies sei der Grund, weshalb man nach einigen Waschgängen weißes Garn an den Nähten findet. In der Schneiderei Gercek ist

kunterbuntes Garn in jeder Farbe und jeder Größe zu finden, sodass jedes Änderungsstück mit Sicherheit ein passendes Garn finden wird.

Erdtöne sind beliebt – Nur ein kleiner Ausschnitt der riesigen Auswahl an Garn in dem Schneideratelier.

Diese feinen Details sind dem Schneider extrem wichtig. „Wenn ich fremde Menschen sehe, achte ich direkt auf deren Kleidung. Sitzt der Gürtel richtig? Passt die Jacke? Ist etwa die Hose zu kurz? Meinen Augen fällt sowas direkt auf. Es ist wie eine Krankheit geworden.“ Auch wenn der 52-Jährige die Arbeitsbedingungen in den günstigen Produktionsländern kritisiert, ist er was die Qualität seiner eingelieferten Änderungsstücke betrifft, sehr entgegenkommend. „Ob die Hose1000 Euro gekostet hat oder zehn Euro ist mir egal. Meine Arbeit bleibt bei beiden Stücken die gleiche.“

Schneider sein ohne Furcht

Letztendlich steht immer noch die Frage im Raum, ob Handwerker wie Coskun Gercek ihre Arbeit ohne Zukunftsängste in Schneidereien leisten können. Die Schattenseite der Konfektionsindustrie hat bereits den meisten Maßschneidern die Arbeit weggenommen, sodass sie heutzutage als Ausnahmen bei der Kleidungsanschaffung gelten. Trotzdem entwickeln sich Trends zu individuell angefertigter Ware, weil Unikate wegen ihrer Qualität und Nachhaltigkeit wertgeschätzt werden. Außerdem sind Hochzeits- und Sonderanfertigungen so prominent wie noch nie. Gercek ist überzeugt von einer optimistischen Zukunft der Schneidereien. „Dieser Beruf wird niemals aussterben. Solange Menschen noch existieren, wird es immer Schneider oder Friseure geben. Das sind Bedürfnisse der Menschen.“

Webseiten wie Job-Futuromat erstellen eine Übersicht über die Wahrscheinlichkeit einer Automatisierung von Berufen. Für die Änderungsschneiderei steht die Wahrscheinlichkeit bei 80 Prozent. Die Gründe, weshalb der Schneiderberuf relevant bleibt, sind aber aktueller denn je. Individualität ist vor allem in westlichen Kulturen praktisch Goldwert. Menschen haben unterschiedliche Körperformen und Kleidungsstile, die wichtig sind, um seine Persönlichkeit hervorzuheben. Dazu stellt die Änderungsarbeit an bereits vorhandener Kleidung eine nachhaltigere Option zum Neukauf dar. Vor allem persönliche Anforderungen oder Notwendigkeiten bieten Änderungsschneidereien eine Chance, den Kleidungsstücken eine neue Perspektive zu verleihen. Ob es nun berufliche Dress-Codes, besondere Anlässe oder medizinische Pflichten sind; ohne das Handwerk der Schneider sind solche Anfertigungen auch durch Roboter nicht zu ersetzen. Vielleicht ist der erste Schritt Richtung Bewahrung dieses Berufs erst einmal die Wertschätzung der Kunst und Erbe. Ein guter Start wäre doch eine geschützte Berufsbezeichnung…